HUNDE IM PANZERSCHATTEN

Saskia Nitsche 
2021C024

Wir traten aus dem Aufzug. Ein Sammelwagen für schmutzige Hotelwäsche stand auf dem Flur des Flughafenhotels, auf dem auch andere Fluggäste gerade dabei waren, ihre Zimmertüren aufzuschließen und ihre Koffer über die Schwellen zu ziehen, und ich sah keinen Unterschied zwischen dem Wagen und Ava, die den Flur entlangging und die Türen nach unserer Nummer absuchte, weil es in meinem Kopf völlig still war, weil jedes Begreifen zu einem Ende gekommen war.

»Ava«, sagte ich, »es ist so still, dass ich den Eindruck habe, ich bin gar nicht da.«
»Am Ende werden wir sagen, wir sind damals nicht dabei gewesen«, sagte Ava.

 

Wir stiegen in die Dusche. Die Reifen der Busse, die uns vom Terminal zum Hotel gebracht hatten, quietschten auf der Straße. Dort oben, wo wir eben noch gewesen waren, ganz weit hinten in der Welt, auch dort war niemand, der in dieser Nacht etwas hätte verstehen können. Wir hatten nichts begriffen, während der ganzen Flugreise nicht, in all den 23 Stunden, die wir hierhergekommen waren, hatten wir Stunde für Stunde nichts begriffen. Man hatte uns vorbereitet, hatte gesagt, es sei ungewiss, ob wir landen könnten und wann. Dann das gleißende Licht der Busscheinwerfer auf dem Rollfeld, überhitzte Busse, die uns unter Militärschutz abgeholt hatten, einer der Hunde in der Ferne auf dem Rollfeld und das Warten in diesem Hotelzimmer, auf ein Verstehen, darauf, dass es weiterging.

Ich stieg aus der Dusche und lief nackt durch das Zimmer, öffnete die Minibar. Ava trocknete sich ab, langsam, als wäre das Abtrocknen eine Möglichkeit gewesen, Zeit zu gewinnen, weil sie nicht wusste, was als Nächstes kommen sollte.

Der Alarm tönte durch die Lautsprecher im Flur und weil sie uns gesagt hatten, dass dieser Alarm es sei, auf den wir warten sollten, weil er bedeutete, dass wir in unseren Zimmern bleiben sollten, machten wir ein ernstes Gesicht.

Ich bemerkte, dass ich nur noch von außen auf mich sehen konnte, als wäre etwas verrutscht, als könnte ich nur noch in der dritten Person von mir denken, das war neu.

Alles ist wie immer, sagte ich mir, hauptsächlich, um mir etwas zu sagen, und ich sah, wie auch Ava sich noch immer abtrocknete, als wäre nichts anders und niemals etwas anders gewesen. Ihre Blicke glitten in dem kleinen Badezimmer hin und her.

Draußen hörte ich jemanden auf der Straße brüllen, ein Betrunkener, der nicht mitbekommen hatte, was mit dem Rest der Welt unterdessen geschehen war.

Ich ging zurück zu Ava ins Bad, weil ich nicht wusste, wo ich sonst hinsollte. Wir waren die Nacht und wir waren die beiden Gestalten, die sich in das enge, dunkle Bad des Flughafenhotels drängten, in dem sich überall Schimmel in die Fugen geheftet hatte. Wir waren die Sterne in dieser Nacht, das hatte Ava schon im Flugzeug gesagt, und wir waren einander ein Halt gewesen, bis wir uns in die Augen gesehen und begriffen hatten, dass wir einander diesmal nicht helfen konnten.

Im Zimmer nahm ich das Telefon und rief an der Hotelrezeption an. Sie sagten, dass die Panzer die Stadtgrenze nördlich des Flughafens passiert hätten und dass niemand gedacht hätte, dass es tatsächlich so schnell geschehen könne, dass es doch auf alle noch immer wie eine Fiktion wirken würde und man besser auf dem Zimmer bleiben solle. Ava griff nach der Nagelfeile, die auf der Ablage über dem Waschbecken bereitlag, und dann rutschte sie einfach in sich zusammen, schlug auf den Fliesen auf. Ich ließ sie liegen. Die Einsicht, dass sie nicht hier war und dass ich nicht hier war. Ich war hilflos geworden gegenüber Ava und gegenüber der ganzen Existenz, seit wir auf dem staubigen Teppichboden eines Flughafenhotels entlangschlichen, Gestalten, die in den Himmel sahen und wussten, dass die Sterne, die sie dort oben entdeckten, so bereits lange nicht mehr existierten.

Ich machte mir Vorwürfe. Als hätte ich auf diese Einsicht gewartet, um nicht mehr handeln zu müssen, um alle Verantwortung abgeben zu können, die ich jemals gehabt hatte. Ich hatte Angst, dass ich keine Antworten finden würde auf alle Fragen, die noch offen waren, und ich dachte, dass die Tatsache, dass das Militär in diesem Land, in dem auch wir gerade zufällig erschienen waren, die Grenze passierte, mir zugleich wie eine Befreiung vorkam, denn nun war nicht sicher, ob ich überhaupt noch Antworten finden müsste.

 

In der Dunkelheit der Nacht beugte sich Ava aus dem Fenster, um die Straße einzusehen. Sie hielt sich das vom Sturz geschwollene Knie. Einheimische Panzer hatten sich an der Wegbiegung der Allee, in der sich das Hotel befand, positioniert. Und Ava zählte sie, wie sie immer alles zählte.

»Sieben«, sagte sie. Wie viele außerdem um die Ecke seien, wisse sie nicht, wie wir überhaupt nichts wüssten.

Es ist schön hier bei Nacht. Wie es aussah, würden wir unsere Dokumentation nicht drehen können, also dachte ich mir den Titel für unseren nächsten Kurzfilm aus, den wir schreiben könnten, sobald wir zurück in Quebec wären. Ava hätte ihn kitschig gefunden, also sprach ich ihn nicht aus.

Im Bad sprudelte Wasser aus dem Abfluss, machte gurgelnde Geräusche und dann klapperte es leise, als wäre das Abflussblech mit dem Wasser ein wenig nach oben gehoben worden und nun wieder zurück an seinen Platz auf der Keramik des Waschbeckens gefallen. Ich studierte die Frühstückskarte auf dem Nachttisch. Continental. Es gab das gleiche wie in allen Hotels der Welt, in denen ich jemals gewesen war. In Dubai, in New York, in London, in Paris. Dubai hatte ich gemocht, an alle anderen Städte konnte ich mich nicht erinnern.

»Was machen wir nun?«, fragte Ava und ich schlug ein Spiel vor, das wir immer dann spielten, wenn wir nicht wussten, wo die Unendlichkeit, in die sich die Zeit vor uns ausdehnte, zu einem Ende kommen würde.

»Was lässt dich Druck fühlen?«, fragte ich Ava und sie sagte: »Projektionen auf mich«, sie sagte:
»Ungewissheit«, sie sagte: »Gedanken überhaupt«, und ich nickte, weil ich Ava immer verstehen konnte.

»Was liebst du?«, fragte Ava mich und ich sagte: »Stille«, ich sagte, dass ich auch Ava lieben würde und ihre Gegenwart.

Der Alarm ertönte erneut und sicherlich würden sich alle Hotelgäste daran halten und die Zimmer nicht verlassen, wobei ich mir nicht sicher war, ob es nicht auch Gäste gab, deren Toilette auf einem der Flure lag, und was geschehen würde, wenn einer von ihnen hierfür den Gang betreten müsste.

 

Auf dem Hotelbett drückten wir uns aneinander. In der Stille der Nacht waren wir uns so fremd geworden, dass wir nur noch Organismen wahrnahmen, die sich aus Fleisch und vielmehr noch aus Wasser zusammensetzten, und wir wussten voneinander, dass wir beide noch nie begriffen hatten, weshalb die Materie, aus der wir bestanden, in einen Stecknadelkopf passen sollte oder auch in eine noch viel kleinere Form, weil ja schließlich bereits das ganze Universum in einen Stecknadelkopf passte.

Das war alles, was wir voneinander hatten wissen müssen, damals in der Kneipe, in der wir uns getroffen hatten, dass wir dieses nicht begriffen; es hatte genügt, um miteinander weiterzugehen.

In diesem Hotel war das Licht über dem Waschbecken grell, es schien durch die offen stehende Badtür auf die Dunkelheit des Teppichbodens, erinnerte an das blendende Licht der Toilette der Bar, in der ich Ava kennengelernt hatte.

Ich sah auf den Organismus, der vor mir lag, und ich fragte mich, ob Ava nur deshalb nicht gekränkt war von diesem sehr speziellen Blick, den ich sicherlich an mir hatte, weil auch sie in mir nichts anderes mehr sehen konnte als einen Organismus, weil auch sie längst zu der Überzeugung gekommen war, dass wir beide hier in diesen Körpern in dieser Nacht nicht anwesend waren.

Als unsere Rümpfe aufeinander zuglitten, zeigten wir unser stummes Einverständnis.

»Was liebst du?«

»Ich liebe die Stille, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem Panzer und einem Flusspferd, es sei denn, ich denke mir einen aus. Dass ich mit dir hier bin und dass niemand von uns glaubt, wirklich dabei zu sein.«

Dann schliefen wir ein.

 

Die Sonne ging auf, zwei Stunden, nachdem erneut der Alarm ertönt war. Als wir aus dem Fenster sahen, lagen die Panzer noch immer wie friedliche Flusspferde in der Allee.

»Wenn wir hier bleiben müssen, könnten wir uns daran gewöhnen müssen, an die Gegenwart dieser Maschinen«, sagte ich. »Aber was wäre schlimm daran, es sind nur ein paar Flusspferde in einer Allee, oder?«, fragte ich Ava und Ava wiederholte: »Flusspferde in einer Allee.«

Ich dachte, dass sich etwas ereignete, dem man Ausmaße beimessen würde, das aber von diesem Punkt, von dem aus wir darauf blickten und von dem aus Bedeutungen nicht länger existierten, klein war wie die Unendlichkeit weit, dass es niemals eine Bedeutung haben würde, außer wir würden sie unter Anstrengung erschaffen. Dass unsere Gedanken wahrscheinlich politisch nicht besonders engagiert waren, dachte ich auch.

 

Am späten Morgen bogen sich die dürren Bäume in der Allee in alle Richtungen und auch Ava schlug mit ihren Gliedmaßen um sich. Ich nahm meine Bettdecke und warf sie auf sie, bevor ich aufstand und auf das Telefon blickte, auf dem die Anruftaste rot leuchtete. Niemand hatte einen Anruf gehört, weder in der Nacht, in der wir die meiste Zeit ja doch nicht geschlafen hatten, noch in den Morgenstunden, und was hätten sie auch wollen können, in der Reglosigkeit dieser Situation gab es nichts zu sagen. Ich drückte die Taste, von der ich mir versprach, dass sie auf dem Display zeigen würde, wer angerufen hatte, und tatsächlich war es die Rezeption gewesen, doch als ich zurückrief, nahm niemand ab.

Ich war mir nicht länger sicher, ob ich in einem Hotelzimmer war, ob Ava dort unter den beiden Decken lag, es hätte auch eine Vorstellung sein können, die ich in diesem Augenblick für wahr hielt.

Ava bewegte sich und schlug die Augen auf. Hätte ich gesagt, was ich dachte, sie hätte es verstanden, und wahrscheinlich deshalb kam es uns nicht länger richtig vor, einander zu berühren. Weil wir beide wussten, dass wir nur mehr der Raum waren, durch den unsere Vorstellungen hindurchgingen, ich durch ihren und sie durch meinen. Es musste der Eindruck der drohenden Vernichtung gewesen sein, der in der letzten Nacht dazu geführt hatte, dass wir uns doch berührt hatten, einfach und letzten Endes nur, weil es uns eine Sicherheit vorgemacht hatte.

Ava schlug die Decken zurück und ging ins Bad. Sie schloss die Tür nicht, die meiste Zeit nahmen wir keine Notiz voneinander. So war es auch jetzt, in diesem Moment, in dem die Panzer draußen parkten und die Hunde sich duckten vor den Schatten, die sie in die Straße warfen.

 

Gegen Mittag bestellte Ava Chickenwings. Später brauchte sie meine Hand auf ihrem Bauch, von den Chickenwings war ihr schlecht. Ein Bediensteter in einem schmutzigen Jackett, wie man es nur in einem billigen Flughafenhotel tragen konnte, hatte sie auf das Zimmer gebracht. Wir hatten geschwiegen, keiner von uns hatte die Frage ausgesprochen, weshalb er auf den Fluren herumlief, obwohl wir, die Hotelgäste, dazu angehalten worden waren, nicht hinauszugehen. Bloß eines sagte Ava, als wir wieder alleine waren: »Sie könnten uns sagen, dass wir nicht hinaus dürften und aus Angst würden wir bleiben. Selbst wenn dort keine Hunde im Panzerschatten herumliefen und auch überhaupt keine Panzer dort stünden.«

Einer der Militärhunde, eine aggressive Rasse, die in den letzten Jahren in diesem Land zur Verteidigung gezüchtet worden war, für den Staatsschutz, wie uns die Frau an der Rezeption erklärt hatte, stand noch immer im Schatten einer der Panzer, als wir noch einmal die Allee hinuntersahen.

Im Bad hustete ich Blut. Wenn ich nervös war, hustete ich Blut. Ich hatte es Ava nie gesagt. Schon als Kind hatte ich es getan. Es hatte den Eltern Angst gemacht und den Kindergärtnerinnen hatte es Angst gemacht und schließlich hatte ich beschlossen, nicht mehr darüber zu sprechen. Ich spuckte das Blut ins Waschbecken und spülte es hinunter.

Im Badmülleimer lagen die Knochen der Chickenwings. Ava hatte sie dort hineingeleert und als ich mich später noch einmal ins Bett legte, kam diese Angst in mir hoch, die zu einer Panik wurde, dass die Hunde in unser Zimmer kommen könnten, wenn sie die Knochen der Chickenwings röchen. Obwohl sie nicht im Hotel, sondern auf der Straße herumliefen, schlief ich ein mit dieser Angst, die im ganzen Körper brannte.

 

Am Nachmittag duschte Ava noch einmal. Weil sie nicht wüsste, was sie sonst tun solle, sagte sie.

Ich konnte die Knochen der Chickenwings aus dem Bad riechen. Ich prüfte meine Kleidung und stellte fest, dass auch sie roch. Ich schwitzte und mein Schweiß roch ebenfalls nach Chickenwings.

Die Werbung im Fernseher, den ich eingeschaltet hatte, pries eine einheimische Fluggesellschaft an und ich fragte mich, ob wir je wieder hier herauskommen würden. Das Hotelzimmer war die Schlucht, in die wir letzte Nacht hineingerutscht waren, eine Stille, die sich überallhin ausbreitete, die sogar Ava im Bad verschlang. Sie war aus meinem Wahrnehmungsraum geglitten, sobald sie ins Bad hineingegangen war, ich konnte sie nicht erinnern. Ich rief ein Foto auf meinem Smartphone auf, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sie aussah, doch sobald ich es wegdrückte, war sie so weit weg, wie die Hunde hinter den Panzern für mich weit weg waren, weil plötzlich alles gleichermaßen unwirklich schien. Nur die Angst war echt und weil der Geruch der Chickenwings mich an sie erinnerte, verschwand sie nicht.

Ava kam aus dem Bad, sie war noch nackt und trocknete sich die Beine ab.

Kurz darauf rief die Rezeption an. Man hatte Shuttles organisiert, die uns zum Flughafen zurückbringen sollten. Ava sagte, sie habe Hunger und dass sie noch einmal Chickenwings essen wolle. Ich sagte, dass ich zum Flughafen wolle.

 

Als die Shuttles kamen, schirmten bewaffnete Männer des Militärs die Einfahrt zum Hotel ab. Mit den Koffern stiegen wir die Treppe in den kleinen Bus nach oben. Irgendwo zwischen dem Flughafenhotel und dem Flughafen hielt der Bus an und ein Offizier verlangte nach Papieren, die der Fahrer aus dem Fenster reichte, als hätten wir gerade eine Grenze passiert, als hätten wir nicht einige Meter, sondern viele hundert Kilometer zurückgelegt. Das Flugfeld erstreckte sich neben uns und erinnerte an eine Wüste ohne Ränder.

Ava legte ihre Hand auf meinen Arm. »Die Hunde«, sagte sie und deutete das Flugfeld hinunter, wo zwei der Hunde im Panzerschatten saßen.

»Nein«, schrie ich, als ich sah, wie sich ihnen jemand mit einem auf sie gerichteten Gewehr näherte. Die Türen des Busses schlossen sich. Ich öffnete die Augen erst wieder, als wir vor dem Flughafeneingang hielten.

»Wir sind nicht dabei gewesen«, sagte Ava.

Ich nickte, viel später erst, als wir bereits in die Maschine stiegen. Wie immer lösten das grelle Blau der Sitze und die Enge des Flugzeugs Schwindel in mir aus. Ava nahm meine Hand und las die Snackkarte.

Wir hoben ab. Ich blickte auf das Flugfeld. Hunde im Panzerschatten, der sie schwarz färbte wie die Nacht. Ich erkannte ihre Umrisse nur unscharf. Später bestellte Ava Chickenwings. Vom Geruch wurde mir schlecht.

 

Ava hatte die Schachtel mit den restlichen Chickenwings von sich geschoben, sie hatte sich die Finger abgeleckt und dann die Serviette, an der sie die nassen Finger abgewischt hatte, in das Netz am Sitz vor sich gesteckt.

»Nichts«, sagte ich, und meinte die letzten Stunden, weil irgendwie davon jetzt schon nichts mehr übrig war.

»Ich kann nicht verstehen, was geschehen ist«, sagte ich, »nichts bleibt, aber trotzdem sind da diese Spuren, die den Eindruck erwecken, dass etwas gewesen sein muss.«

»Ich hab frisch gewaschene Haare«, sagte Ava, »das muss ein Zeichen sein, dass ich irgendwo gewesen bin, dass ich dort geduscht habe, das ist ein Zeichen, dass ich irgendwie dabei gewesen bin.«

Und ich schob Ava ein wenig auf ihre Seite, weil sie diese Angewohnheit hatte, immer etwas mehr Platz einzunehmen, als ihr zustand. Ava war dünn, aber ihr Organismus konnte sich aufquellen, das hatte ich schon immer an ihr bewundert, dass Ava die Fähigkeit hatte Raum einzunehmen, egal, wo sie war. Ich sah aus dem Fenster, die Wolkendecke unter uns war dicht. 23 Stunden, dachte ich, und ob wir etwas begriffen haben würden, wenn wir angekommen wären, fragte ich mich, und dass das äußerst ungewiss wäre, dachte ich auch.

»Ava«, sagte ich, »ist es nicht, als wäre diese Erfahrung immer schon da gewesen, als hätten wir immer schon gewusst, dass das, was wir für uns hielten, durch die kleinste Unsicherheit jederzeit ausgelöscht werden könnte?«

Ava murmelte etwas, das ich nicht verstand. Dann schlief sie ein. Wir bewegten uns lautlos über den Ozean. Es roch nach Fett.

 

    

 

VORSPANN

Saskia Nitsche 
2021C025

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
In der Dämmerung erscheint der Fuchs.
Mein Blick fällt auf die Schnauze, die zwei glänzenden Augen, die so viel Milde ausstrahlen.
Den dürren Körper.
Weil jemand aus der Küche gerade dabei ist, neue Fleischabfälle herauszustellen, wartet er ab. Er sitzt im Gebüsch auf den Hinterläufen, geduldig. Aufgeweckt blickt er in die Richtung, wo unter mir der Ausgang der Hotelküche sein muss.
Ich stelle mich dichter hinter die Scheibe.
Endlich ist dort unten alles ruhig. Der Fuchs läuft auf die Abfallcontainer zu. Weil die Container überquellen, stellt das Küchenpersonal Tüten mit Abfällen daneben. Sie verknoten sie gut, doch er reißt sie an den Seiten auf, zerrt Fleischabfälle heraus, die er ins Gebüsch schleift und dort verzehrt.
Ich bleibe an diesem Abend lange am Fenster stehen. Noch ist dort drüben alles ruhig.
Ich habe eine seltsame Verbundenheit entwickelt zu dem Tier. Es sind die Momente des Tages, in denen ich eine Weite spüre, dann wieder der Blick zum Horizont, zu den Lichtern der Raketen, und dieses Zusammenziehen. Kontraktion und Expansion. In meinem Zimmer studiere ich die Gesetze der Existenz. Seit fünf Tagen bin ich hier. Viele Anschlussflüge starten nicht mehr. Ich muss beruflich Menschen treffen, doch wann es weitergeht, weiß ich nicht.

 

 

 

SPÄTER ABEND I

Saskia Nitsche 
2021C026

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Es schmeckt gut. Amber sieht mir zu. Sie kratzt noch ein wenig Speck aus der Pfanne und schiebt ihn mir zu. Ich nehme ihn mir auf den Teller.
Der Blick aus der Küche fällt auf die Container.
Dort stöbert ein Tier in den weißen Tüten, sage ich. Was ist das für ein Tier?
Das Küchenpersonal stellt sie hinaus. Was nicht mehr in die Container passt, entsorgen sie in den Tüten.
Amber wirft einen Blick hinaus, zuckt mit den Schultern.
Amber, sage ich, es schmeckt gut, es schmeckt so unglaublich gut.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Es ist 21.00 Uhr. Die Sonne ist seit zwei Stunden untergegangen.
Seit fünf Tagen bin ich hier. Sitze bei Nacht auf dem Bett des Flughafenhotels, sehe das Aufblitzen der Raketen am Horizont. Sie betreffen mich nicht. Immer wieder, bis mir die Lüge unter die Haut dringt.
Noch ist dort drüben in der Ferne alles ruhig.
Doch was ist da draußen? Ein Lärm. Ein Lärm wie –

 

*

FRAU AN DER REZEPTION
Vom Flughafen kommen die Shuttles, doch was –

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Was ist das?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Vom Spaziergang komme ich zum Hotel zurück, bleibe kurz davor stehen. Von außen sehe ich auf den Hotelkomplex. Die Milchglasscheiben der Badezimmer auf der Rückseite des Hotels sind fast überall dunkel. Die meisten schlafen schon, haben sich im Bad längst fertig gemacht. Ich gehe um das Hotel herum. Doch –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Was ist das?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Militär?
Ich beeile mich, in die Eingangshalle zu drängen. Ankommende Gäste, die aus den Bussen stürmen. Militärschutz.
Entschuldigen Sie, was –

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Was ist da bloß –
Militär, hier?

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Was war das?
Was war das für ein Lärm?
Ich stehe noch einmal auf. Über den Teppichboden bewege ich mich lautlos zum Fenster.
Hier, auf der Rückseite des Hotels, ist nichts zu sehen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich weiß nur, dass dort drüben, weit entfernt von hier –
In den Nächten Raketen, dass dort ein Krieg, ja.
Aber hier?

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Muss ich mir Sorgen machen?

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Muss ich mir Sorgen machen?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Müssen wir uns Sorgen machen?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Muss ich –

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Am Horizont ist noch immer alles ruhig. Ich ziehe die Vorhänge zu, lege mich aufs Bett.
Ich könnte etwas zu essen bestellen, doch beim Gedanken an die Gerüche, die aus der Küche heraufdringen, wird mir schlecht.
Ich beschließe zu schlafen. Der Bezug der Bettwäsche ist aus einem Kunstfasergemisch. Ich schwitze in den Nächten. Das Fenster öffne ich trotzdem nicht. Zu unangenehm sind die Geräusche der Raketen dort drüben bei Nacht.

 

 

  

NACHT I

Saskia Nitsche 
2021C027

 

*

FRAU AM SWIMMINGPOOL
In der Mitte der Nacht kommt der Sturm.
Ich laufe den Gang entlang, an der Schwimmhalle
mache ich Halt. Hier draußen ist der Chlorgeruch
bereits deutlich zu riechen.
Ich blicke durch die gläserne Scheibe. Das Wasser
liegt im Dunkeln da, die Leuchten an der Decke
der Schwimmhalle sind jetzt ausgeschaltet.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
01.00 Uhr. Ich betrete das Treppenhaus.
Alles liegt im Dunklen da. Erst nach wenigen Sekunden reagiert der Bewegungsmelder.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich gehe die Treppe nach unten, nehme den
Weg durch die Umkleidekabinen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Gehe ein Stockwerk nach oben, betrete den Gang.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Hier unten ist um diese Zeit nicht abgesperrt.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Das Schild im Nacken kratzt. Bei 314 biege ich links ab. Die Stille in diesem Gang verschlingt mich.
Vor 311 bleibe ich kurz stehen. Nehme den Duft der Chickenwings wahr, atme ihn ein. Noch immer würde ich sie selbst essen. Andere sagen, ich könne sie sicher nicht mehr sehen, doch das stimmt nicht.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
In der Halle gleitet mein Blick über das still
daliegende Wasser. Ich streife die Kleidung ab,
lasse sie einfach auf die Fliesen am Beckenrand
fallen. Ich halte mich an der Einstiegstreppe fest.
Nackt gleite ich hinein. Einen Badeanzug habe ich nicht.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Wie gut das riecht.
307. Hier bitte.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich habe mit der Kälte des Wassers nicht gerechnet.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
307, 0,70
305, 1,20
201, 0,50
210, 1,10
110, 0,50
103, 1,10
004, 0,30

Die Leute schlagen auf.
Ich habe gelernt, bleibe ich einen Augenblick stehen, löst das etwas aus. Ein Schuldgefühl. Eine unangenehme Konfrontation mit der Stille.
Sie geben mir Geld.
Ein Zeichen, dass ich fortgehen soll. Sie schicken mich weg. Manchmal denke ich darüber nach, was wäre, wenn ich einfach bliebe.

 

FRAU AN DER REZEPTION
In der Nacht behalte ich ununterbrochen die
Eingangstür im Blick. Bei jedem kleinen Geräusch
jagt mein Herz los. Ich starre durch die doppelte
Glastür auf den Swimmingpool. Im Dunkeln liegt
er unberührt da.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich hangle mich am Beckenrand entlang.
Es ist 02.00 Uhr morgens. Noch ist niemand hier.
Natürlich nicht. Es ist mitten in der Nacht.
Niemand ist um diese Zeit unterwegs, nur die
Rezeption in der Eingangshalle, die ich durch die
Glasfront von hier aus sehen kann, ist besetzt.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
051. Was, wenn ich einfach bliebe?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Die Frau draußen an der Rezeption sitzt hinter
der Scheibe wie ein Kanarienvogel. Sie trägt eine
bunte Bluse. Sie ist müde. Sie sieht mich nicht.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ich glaube, eine Silhouette in der Schwimmhalle
zu sehen. Aber hier ist niemand vorbeigekommen.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Liegt friedlich da.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ich überlege den Nachtwächter zu bestellen,
doch als ich noch ein wenig länger hinsehe,
bewegt sich nichts mehr.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Niemand kommt um diese Zeit an.
Alle Flugzeuge landen bis 01.00 Uhr.
Vom Flughafen bis hierher benötigt
man in etwa eine viertel Stunde,
danach ist es hier in aller Regel still.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Was ist da draußen bloß los? Hunde.
Zu unserem Schutz, ja. Aber was, wenn nicht?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
In den letzten Stunden ist niemand
mehr angekommen. Vermutlich, sagte
jemand, landen sie nicht mehr.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Hinter mir gluckern die Heizungsrohre.
Das Hotel ist modernisiert worden, doch
der Bau ist alt, hinter den Wänden verbirgt
sich marode Substanz.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Auf den Gängen ist es in den Nächten gespenstisch still.
Bei den Aufzügen im Erdgeschoss werde ich langsamer. Mein Herz jagt in diesen Nächten besonders stark. Ich sollte den Doktor sehen. Wann ich hier herauskomme, weiß ich nicht. Geld habe ich ohnehin nicht. Einmal am Tag telefoniere ich mit meiner Frau. Es geht ihnen gut, sie haben zu essen. Unser Haus liegt sicher in den Bergen.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Guten Tag.
Wie ist Ihre Zimmernummer?
Wir wissen nichts Neues, leider.
Wir melden uns.
Auf Wiederhören.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
051, 0,30
001, 0,70

An der Glasfront zur Schwimmhalle bleibe ich stehen.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
In meinen Augenwinkeln bewegt sich was.
Eine Spiegelung an der Glasfront, dort wo
die Treppe zu den Umkleiden führt.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Da ist sie wieder.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich kann nicht ausmachen, was die Spiegelung
dort gewesen ist.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ich stehe an der Glasscheibe der Eingangstür,
sehe hinaus ins Dunkle.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie kommt bei Nacht.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Keine Hunde zu sehen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie ist schön.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ich habe Angst, dass jemand da draußen
verborgen ist, der mich jetzt sieht.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie ist so schön.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Das Telefon klingelt, ich eile zurück.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich würde sie gerne einladen, mit mir in der Küche zu sitzen,
wenn es ruhiger wird in zwei, drei Stunden. Dann, denke ich,
wird es ruhiger sein. Wir könnten –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Bitte gedulden Sie sich, wenn wir etwas wissen,
werden Sie die Ersten sein, die es erfahren.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie denkt, sie ist unbeobachtet.
Aber warum schwimmt sie nicht. Warum –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Natürlich –

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Kann sie nicht schwimmen?, frage ich mich.
Wie kann es sein, dass sie nicht schwimmen kann?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Es kann doch nicht sein, dass ich nicht
schwimmen kann.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Nein, nichts Neues. Sobald ich etwas weiß,
werden Sie es erfahren.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Durch das Foyer eile ich zur Treppe,
will hinunter zur Küche –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Entschuldigen Sie, haben Sie –
Ich denke, ich habe eine Silhouette gesehen.
Hinter dem Glas, in der Schwimmhalle.
Haben Sie jemanden gesehen?

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Dort? Nein, dort ist niemand. Ich habe keinen gesehen.

FRAU AN DER REZEPTION
Danke, dann habe ich mich wohl getäuscht.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Kann ich Ihnen helfen?
Sie sehen so? Irgendwie sehen Sie müde aus.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Wie ein Kanarienvogel.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Nein, danke. Es geht schon.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich erschrecke mich kurz. Wie sieht sie aus?
Wieso ist sie so müde?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Entschuldigen Sie –

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ja?

FRAU AN DER REZEPTION
Würden Sie –
Könnten Sie doch –
Bitte nur einen kurzen Blick
in die Schwimmhalle werfen.
Nur kurz nachsehen, ob nicht doch –

MANN, DER DIE CHICKENWINGS
Natürlich. Ich werde einen Blick in die Schwimmhalle werfen.
Da ist sie, sie ist so unglaublich schön.

FRAU AN DER REZEPTION
Und?

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Nichts. Alles ruhig, niemand da.

FRAU AN DER REZEPTION
Danke, jetzt bin ich ruhig.

 

*

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Hilfe, hört mich denn niemand?
Es zieht mich nach unten.
Schnell strecke ich mich wieder nach dem Beckenrand.
Meine Handflächen umgreifen die Rillen,
dort, wo das Wasser in den Ablauf schwappt.
Kurz habe ich gedacht –
Habe ich gedacht, ich müsste ertrinken.

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
In dieser Nacht ist es besonders still. Hinter den Türen
höre ich hin und wieder ein Rascheln. Ich stelle mir vor, wie jemand
aufsteht, eine Packung Schokolade aus dem Schrank nimmt, sie
raschelnd aufpackt und beginnt zu essen. Menschen essen, wenn sie
Angst haben.
Um 03.00 Uhr geht aus Zimmer 021 die nächste Bestellung ein. Chickenwings. Ich nehme den Weg in die Küche, vorbei an den Aufzügen. Ich steige die Treppe, jemand hat gesagt, es sei gut für das Herz, viel mehr gibt es nicht, was ich hier für mich tun kann.
Auch in der Küche ist es um diese Uhrzeit still. Alles ist schon ordentlich angerichtet. Hanan packt die Chickenwings ein und gibt mir das Tablett mit der Pappbox. Bevor ich komme, geht die Bestellung in der Küche bereits über das zentrale Bestellsystem ein. Zehn Minuten später bekomme ich Bescheid. Ein, zwei Minuten bleiben mir, um das Tablett an die Tür zu bringen. Länger als 12 Minuten warten soll niemand, 13 Minuten maximal.
Ich habe keinen Ort in diesem Hotel, bewege mich durch die Gänge. Habe ich einmal nichts zu tun, geht keine Bestellung ein, weiß ich nicht, was tun.
In den Gängen fühle ich mich geborgen. Fenster nach draußen gibt es nur, wo die Gänge auf das Treppenhaus stoßen. Hier drin kann mir nichts geschehen.
Die Eingangshalle, wo die Klimaanlage besonders stark eingestellt ist, durchkreuze ich so schnell ich kann. An der Decke flackern die Lichter. Ich blicke zur Frau an der Rezeption. Wie heißt sie? Heute Nacht fällt mir auf, ich habe noch nie nach ihrem Namen gefragt.
Was ist das, sage ich und zeige nach oben.
Sie sagt nichts, greift stattdessen nach dem klingelnden Telefon.
021 liegt am Ende des Flurs. Ich klopfe. Ein Herr im hellblauen Bademantel öffnet.
Chickenwings, sage ich.
Danke, sagt er.
Ich warte einen Augenblick. Dann fällt die Tür vor mir zu. Ich stehe da wie ein Kind.

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich wälze mich hin und her. Die Nächte sind nicht länger erträglich.
Ich schalte die Nachttischlampe ein. Stehe auf, ziehe den Vorhang zur Seite.
Kaum ist das Licht der Sonne erloschen, scheinen die Lichter der Gewalt dort drüben. Sind sie wieder da, die Raketen.
Die Sträucher biegen sich heftig im Wind. Der Fuchs ist nirgends zu sehen.
Die Einsicht, dass dies alles letztlich auch mich betrifft, mit mir zu tun hat. Ich die gleichen Gedanken in mir trage, die diese Kräfte zu verantworten haben. Seit ich hier bin, empfinde ich Wut, unbändige Abneigung gegen mein eigenes Dasein. Wie ich nach vorne dringen muss, allem muss ich Sinn geben, ich kann nicht einfach nur sein. Mein Widerstand dagegen besteht in diesen Tagen darin, mich meiner eigenen Kraft zu verweigern. Mich ganz meiner eigenen Schwäche hinzugeben. Manchmal fühle ich mich so schwach, dass ich kaum gehen kann.
Ich folge den Spuren meiner Gedanken, schiele dabei hinaus auf die von den Lichtern der Hotelküche beleuchteten Sträucher. Plötzlich schaltet sich der Bewegungsmelder ein. Ich blicke nach unten zwischen die Container. Doch dort ist nichts zu sehen. Eine Weile bleibe ich noch am Fenster stehen.
Dann setze ich mich aufs Bett, zwinge mich in die Nacht zu sehen. Es erregt das Leid auch in mir. Aber das ist es, worum es geht. In der fünften Nacht hier beginne ich zu verstehen, dass es darum geht. Das Leid in sich aufnehmen, es in sich bergen und dann in etwas anderes überführen.

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Es ist 04.00 Uhr. Ich sehe im Treppenhaus aus dem Fenster. Es gibt eine Seite des Gebäudes, die ich vermeide. Aber hier sind keine Raketen, hier kann ich friedlich in die Dunkelheit sehen.
Heute Nacht gehen viele Bestellungen ein. Sie lenken mich ab von meinem Herz. Ich weiß nicht, was tun. Geld habe ich keins. Ich hoffe, dass alles gut geht. Noch eine ganze Weile. Bis mein Junge 13 ist. Das habe ich mir vorgenommen. Mit 13 kommt man alleine zurecht, das ist, was mein Vater mir gesagt hat, als ich 11 Jahre alt war. Er hat es mir so häufig gesagt, dass ich vorbereitet war. Mit 13 kam ich zurecht. Ich nahm den ersten Job an. Auch in einem Flughafenhotel.
Unter anderen Umständen würde ich mir Gedanken um mich machen, um meine Familie, in dieser Nacht aber konzentriere ich mich auf das Piepen des kleinen Gerätes, das ich bei mir trage, das die eingehenden Bestellungen meldet. Konzentriere mich auf den Weg hinunter zur Küche. Auf das Annehmen der Tabletts mit den duftenden Paketen. Ich würde sie selbst essen. Dass manche sagen, ich könne sicher den Geruch nicht mehr ertragen, verstehe ich nicht.
In den Nächten, in denen wenig los ist, oft zwischen vier und fünf, setze ich mich zu Amber in die Küche. Dann gibt sie mir die Reste aus den Pfannen, die nicht mehr in die Pakete gepasst haben. Chickenwings-Streifen, Tomatenscheiben, manchmal Gurke. Wenn der Tag beginnt, bin ich meist satt.
Heute ist es bereits fünf, als das Piepen des Gerätes endlich zur Ruhe kommt. Amber gibt mir ein Sandwich. Es ist belegt mit Käse und Schinken, Gurke und Ei.
Das kann ich nicht nehmen, Amber, wir dürfen nichts für uns nehmen, das sind keine Abfälle.
Papperlapapp, sagt sie nur.
Ich bin dankbar. Ein wenig schuldig beiße ich hinein. Es schmeckt gut. Ich mag Amber. Sie sorgt für mich, manchmal fühle ich mich wie ihr Kind. Sie ist bestimmt zehn Jahre jünger als ich.

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Die Bezüge kommen mir abhanden. Nacht für Nacht mehr. Ich kann mir nicht sicher sein, woraus ich mich in diesem Augenblick noch zusammensetze. Das Erscheinen des Fuchses gibt mir Halt. Er ist ein Gegenüber, etwas, nach dem ich mich hier unendlich sehne. Ich spüre eine brüderliche Verbundenheit mit dem Tier. Wie ich hat er hier keine Gemeinschaft, überall nur Hunde. Was sind das für Hunde?

FRAU AN DER REZEPTION
Militärhunde, eine seltene Rasse.

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich frage mich, was macht der Fuchs untertags? Nie habe ich ihn am Tag gesehen. Wo schläft er? Muss ihm nicht heiß sein unter der Sonne? Wird er genügend Wasser finden dort draußen? Kann ich ihm ein Schälchen mit Wasser bringen, es dort unten hinter die Container stellen?
Unter der glühenden Sonne muss sein Fell brennen. Er schleppt sich am Abend, wenn es kühler wird, oder früh am Morgen, wenn es noch nicht heiß ist, her zum Hotel. Hier findet er Nahrung. Wie könnte ich hinausgelangen, um ihm Wasser zu bringen?
Ich klappe den Laptop auf. Das blaue Licht des Screens wirft einen Schimmer auf die Zudecke. Es ist schon fünf. Ich sollte noch schlafen, doch die Zahlen auf dem Bildschirm beruhigen mich. Es fühlt sich beklemmend an, aber für einen Augenblick, bis ich nochmal einschlafe, macht mich der Anblick auf eine seltsame Weise ruhig.

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich bewege mich in den Nächten am liebsten durch die Gänge. Dann muss ich nichts sehen. Nur hier unten von der Küche aus erhasche ich manchmal einen Blick auf die Lichter der Raketen.
Ich bitte Amber, den Rollo herunterzulassen. Es ist ein klappriger Rollo. Das Hotel ist modernisiert worden, aber hier unten ist alles marode. Hier unten, wo nur wir uns aufhalten, machen sie nichts.
Was ist da draußen bloß los, sagt Amber.
Wenn die Hunde draußen sind, muss es ernst sein, sage ich. Aber sie sind zu unserem Schutz da, Amber. Es kann uns nichts geschehen.
Immer wieder sieht sie auf ihrem Handy nach. Es hat ein zersprungenes Display. Aber wir kennen das schon. Wir kennen das schon, dass die wichtigen Dinge dort nicht stehen.
Ich esse mein Sandwich. Um 5.20 Uhr geht die nächste Bestellung ein.
Kurz vor dem Frühstück. Das ist ungewöhnlich, sage ich. Chickenwings. Um diese Zeit? Um diese Zeit, das ist ungewöhnlich.
Amber steht auf, gibt Fett in die Fritteuse. Sie reißt die Packung mit den Chickenwings auf. Ich sehe mir die Plastikverpackung an. Die knallenden Farben, gelb und rot, habe ich schon immer gemocht. Amber schmeißt den Inhalt in die Fritteuse. Ein paar Minuten später sause ich los.

207, 3,00.
3,00? Wirklich?
Das ist viel. Das ist so viel.
Ich nicke ihm zu, zupfe mein Jackett zurecht, bin verlegen. Was tun? Darauf war ich nicht vorbereitet. Was sagen? Ich lege meine Hand auf die Brust.

 

 

   

MORGENGRAUEN

Saskia Nitsche 
2021C028

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich erwache. Draußen höre ich die Raketen. Will sie nicht hören. Hört denn keiner, ICH WILL SIE NICHT HÖREN. WILL NICHT LÄNGER HIER EINGESPERRT SEIN.
Ich reiße den Vorhang zur Seite, doch was ist das –
Da sind keine Lichter. Wo ist –
Sind –
Ich höre sie doch.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Im Foyer sitzt der Kanarienvogel noch immer nicht still.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Wir wissen nicht –
Ich verstehe Sie, aber leider –
Können wir
nicht wissen –
Werden –

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster im Treppenhaus.
Doch was ist das?
Sturm.
Aber da ist noch etwas.
Für gewöhnlich ist es auf dieser Seite des Gebäudes am Horizont ruhig. Aber jetzt sind dort Lichter. Raketen.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Warum sind dort keine Raketen, ich höre sie doch? Leise zwar, aber doch.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
WAS IST DAS? Wieso hier?

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Der Fuchs kommt auch im Morgengrauen nicht. Ich nehme es persönlich.
Von der Hotelküche dringen die Gerüche herauf. Fett, Zwiebeln, schon jetzt am frühen Morgen der Geruch von billigem Fleisch.
Noch ist die Sonne nicht vollständig aufgegangen. Ich starre aus dem Fenster zwischen das von den Lichtern der Hotelküche beleuchtete Gestrüpp, warte darauf, dass der weiße Latz, der mir in der Regel zuerst auffällt, zwischen dem dürren Geäst der Büsche erscheint.
Die weißen Beutel stehen unversehrt und verknotet am Platz. Hin und wieder gibt es Schattenwürfe, wenn in der Küche jemand von innen ans Fenster tritt.

 

*

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Um kurz nach fünf beginnt das Treiben in der
Eingangshalle. Noch ist es nicht vollständig hell,
noch kann ich mich hier verbergen.
Ich sehe, wie Geschäftsmänner an den Empfang eilen.
Sie haben kleine anthrazitfarbene Trolleys.
Doch niemand kann hier weg.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Niemand kann hier weg.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich sehe einzelne Alleinreisende. Familien kommen später.
Frühstück gibt es hier schon ab fünf.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Um sechs sitze ich an dem kleinen Tisch. Über den Screen des Laptops schimmern die Stockmarket-Zahlen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich werfe noch einmal einen Blick ins Schwimmbad.
Sie ist schön, so schön.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Gegen sechs schleiche ich mich durch die Glastür und das Untergeschoss zurück in meinen Flügel.
Im Dritten entsperre ich mit der Karte das Zimmer.
Kurz lege ich mich noch einmal hin.
Um sieben klingelt der Wecker.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Bald wird die Sonne aufgehen.
Warum sind jetzt die Lichter dort drüben? Warum dort?
Sind sie näher gekommen?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Guten Morgen.
Ihre Zimmernummer?
311?
Was kann ich für Sie tun?
Wir wissen nichts Neues.
Selbstverständlich, wir melden uns.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Kaum noch zu sehen vor der aufgehenden Sonne, aber doch –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Selbstverständlich, sobald wir etwas –

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Bevor ich das nächste Mal zur Küche abbiege, nehme ich die Abzweigung zu den Personaltoiletten.
Nino, der im anderen Flügel bedient, steht am Pissoir.
Was machst du hier?
Er antwortet nicht.
Was machst du hier? Ihr habt euer eigenes dort drüben.
— Halt die Klappe, geht dich nichts an.
Was ist dort drüben? Kann er nicht –
Will er nicht –
Sehen wie ich?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Im Frühstückssaal sehe ich Joan. Am Büffet lädt er sich auf.
Ich beobachte ihn. Er ist Leistungsschwimmer.
Die Schwimmhalle ist sicher nicht geeignet, um sein Training in der richtigen Weise fortzuführen. Nur 25 Meter lang, trotzdem schwimmt er dort jeden Tag seine Bahnen.
Er isst viel, sicher weil er viel trainiert. Sein Körper ist schlank. Ich tue so, als sähe ich ihn nicht, nehme mir von den gefüllten Tomaten, dazu eine Scheibe dunkles Brot, das mit Farbstoff gefärbt ist.
Joan nimmt sich Weißbrot. Ich blicke auf meinen Teller. Es ist mit Farbstoff gefärbt, das wissen hier alle. Heimlich lege ich es zurück, nehme mir eine Scheibe aus dem Korb, an dem Joan gerade noch stand. Ich habe Weißbrot schon immer lieber gemocht.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Militärhunde.
Natürlich. Zu unserem Schutz.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Müssen wir uns fürchten?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Warum kann ich nicht schwimmen?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Aber was, wenn –
Ich starre auf die Eingangstür.
Was, wenn nicht?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Es ist mir peinlich.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Versuche zu vergessen, was ich draußen gesehen hab.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Es ist jetzt alles still. Die Raketen sind nicht mehr zu hören. Unter der roten Sonne, die hier am Morgen aufgeht, liegt die ausgelöschte Existenz ruhig da.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Es ist mir peinlich.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Eine beunruhigende Stille.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich schlucke, als ich nach draußen blicke. Roter Wüstensand, den ich von hier aus nicht sehe, unter einem Himmel, der unschuldig ist.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Konzentriere mich auf den Duft der Chickenwings.
In den nächsten Stunden lasse ich nichts anderes an mich ran.

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Niemand ist freiwillig hier. Als wäre das Ausrede genug,
kein Trinkgeld zu geben.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Es gibt Pflanzen, die könnten mir helfen. Ich habe alles
darüber gelesen. Aber sie sind teuer. In der 309 bleibe ich
länger in der Tür. Auch in der 007 und der 104.
Doch niemand gibt mehr.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Wie könnte ich?

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
In der letzten Stunde habe ich mir den Kragen sicherlich
zwanzig Mal aus dem Nacken gezerrt.
Die Kleidung ist Leihkleidung, also kann ich das Schild nicht herauslösen.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Unter mir brummt die Lüftungsanlage der Hotelküche. Eine Dunkelheit erfasst mich, über die mich auch der Gedanke an den Fuchs nicht hinwegtrösten kann. Die Nacht zieht sich hier weit in den Vormittag. Beständig will die Dunkelheit angesehen werden, es ist unerträglich zuweilen.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ich blicke aus dem vergitterten Fenster der Personaltoiletten.
Hier auf der Rückseite des Hotels raschelt einer der Hunde in den weißen Plastiktüten, die das Küchenpersonal hinausgestellt hat.

– Wir werden Köder auslegen müssen.

– Die Hunde gehören dem Militär, wenn jemand sieht, dass wir sie töten, was dann?

– Ich gehe nicht davon aus, dass diese Hunde so leicht zu töten sind.

– Es sind Hunde, warum nicht?

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Die Zimmer bilden ein Netz, zwischen dem
sich meine Identität aufspannt.

 

FRAU AN DER REZEPTION
An der Rezeption gehen noch immer unentwegt Anrufe ein. Die meisten Gäste fragen, wie sich die Situation verhält.

Tut mir leid, ich weiß nicht –
Kann nicht –

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Am Frühstücksbüffet nehme ich mir Limonade. Ich nehme auch Salat. Die Speckwürfel darauf schmecken nach Zwiebeln. Beides zusammen löst in mir erneut diese Übelkeit aus.

Als ich zurückkomme und aus dem Fenster sehe, liegen die Fetzen der weißen Tüten zwischen den Containern und dem Gestrüpp verteilt. Einige Fleischreste liegen dort auch.
War er in meiner Abwesenheit hier?
Ich fühle mich betrogen. Eine Weile stehe ich benommen am Fenster.
Gegen zehn setze ich mich wieder vor den Laptop, die Zahlen flimmern über den Bildschirm, ich beginne verschwommen zu sehen.
Als der Zimmerservice kommt, schicke ich die behaubte Frau unwirsch weg. Seit fünf Tagen bin ich hier und noch nie hat der Zeitpunkt gepasst. Wann sie kommen könne, fragt sie. Kommen Sie, wann Sie wollen, aber lassen Sie mich in Frieden, sage ich.

 

 

 

SPÄTER MORGEN

Saskia Nitsche 
2021C029

 

*

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Heimlich folge ich ihm aus dem Frühstückssaal durch die Eingangshalle und das Treppenhaus. Wo hat er sein Zimmer?
Wenn er mich kennenlernen könnte, denke ich, er würde mich mögen.
Aber ich kann ihn nicht kennenlernen.

Warum
hat es mir
niemand
beigebracht.
Warum?

Es ist mir peinlich.

 

Erste Etage. Er verschwindet in sein Zimmer. Die Tür fällt mit einem leisen Klicken hinter ihm zu.
102.
Jetzt sucht er seine Schwimmsachen zusammen. Gleich wird er wieder herauskommen und nach unten gehen.
Ich gehe an seiner Tür vorbei, verberge mich um die Ecke am Ende des Gangs.

Er kommt nicht.
Er kommt nicht.
Er kommt nicht.

 

Ich lasse mich in den Sessel in der Eingangshalle fallen. Am Tag
fühle ich mich auf eine unangenehme Weise sichtbar. Der
Sessel gibt mir ein wenig Schutz. Trotzdem weiß ich, dass sie zu
mir herübersieht. Wie sieht sie bloß aus?
Unter der Sonne draußen liegt alles dürr da. Wie kann das sein,
Sonne und Sturm zugleich? WIE KANN DAS SEIN?
Die dürren Bäume beugen sich in alle Richtungen.
Einige Hunde haben sich in die Einfahrt vom Hotel geschlichen, liegen ausgestreckt da. Was sind das für Hunde? Sie sind bullig und überall.
Unter dem Eindruck der Hunde kauere ich mich tiefer in den Sessel.
Wann wird wohl jemand kommen und sie von hier fortbringen? Irgendwer muss sich doch darum kümmern. Was machen sie hier?

Nach einer halben Stunde kommt er. Fragt an der Rezeption nach Einwurfmünzen für den Spind. Wechselt seinen Schein, sagt seinen Namen. Natürlich habe ich ihn schon oft gehört.
Ich weiß längst, wie er heißt.
Joan. Joan. Joan.
Was für ein schöner Name.
Woher er wohl kommt?
Sein Akzent klingt weich und aufregend fremd.
Was hat es zu bedeuten, dass er so lange dort steht?
WAS HAT ES ZU BEDEUTEN?
Mag er sie?, frage ich mich.

 

 

GEGEN MITTAG

Saskia Nitsche 
2021C030

 

*

FRAU AN DER REZEPTION
Jetzt, gegen Mittag liegt die Eingangshalle verlassen da.
Nur diese Frau sitzt noch dort.
Das Frühstück ist beendet. Bis auf den Shuttle gestern Abend kommt in diesen Tagen niemand an. Hin und wieder eilt jemand aus einem der Gänge heran, fragt, wann es weitergeht. Ich wisse es nicht, sage ich dann.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Mag er sie?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Die eingehenden Anrufe lösen in mir noch immer
die Hoffnung aus, dass sich jemand meldet und mir
Informationen bringt, doch meist sind es aufgebrachte
Gäste, deren Nerven blank liegen, die auch ich nur
wenig beruhigen kann.
Ich stelle mir vor zu verschwinden. Dann würde das
Telefon einfach hier klingeln, es würde einfach durch
die Halle schrillen. Niemand würde abnehmen.
Ich bin nervös, behalte unentwegt die Eingangstür im
Blick. Wir sind angehalten, sie abzusperren, doch
was ist eine abgesperrte Eingangstür?
WAS IST EINE ABGESPERRTE EINGANGSTÜR?

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich stehe im Foyer, sehe durch die doppelte Glastür
auf das Wasser im Swimmingpool. Joan krault.
Ich habe noch nie jemanden kraulen gesehen.
Mit kräftigen Zügen treibt er das Wasser zur Seite.
Ich stehe eine Weile da, sehe ihm zu.
Bis ich den Eindruck habe, die anderen Schwimmenden
fühlen sich beobachtet von mir.
Mein Leben lang hatte ich den Eindruck, hinter Glasscheiben
zu stehen. Also drehe ich mich um.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Entschuldigen Sie, was machen Sie da?

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich schaue nur. Ist es denn verboten,
einfach zu schauen?

FRAU AN DER REZEPTION
Wenn Sie hier nichts Dringendes zu tun haben,
dann gehen Sie bitte auf Ihr Zimmer.

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Aber ich habe doch
Dringendes
zu tun.
Stumm zeige ich auf den Swimmingpool.
Was können Sie mir schon sagen? WAS KANN SIE MIR SCHON SAGEN?
Sie können nicht von mir verlangen, dass ich mich einsperren lasse.
Hier ist nach außen hin überall abgesperrt. Was macht es für einen Unterschied, ob ich in meinem Zimmer bleibe? Was für einen Unterschied macht es?

 

 

 

NACHMITTAG

Saskia Nitsche 
2021C031

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Am frühen Nachmittag mache ich Pause. In der Nasszelle blicke ich in den über dem Waschbecken angebrachten Spiegel. Ich habe ihn gekannt, denke ich. Jetzt die Ungewissheit, ob dies hier nicht vielmehr ein Fremder ist. Ich wasche mein Gesicht, trockne es ab.
Kann mich nicht konzentrieren.
Habe ich nicht Schuld an all dem? Habe ich Schuld?
Kann mich nicht länger auf meine Arbeit konzentrieren.
Wenn ich dem Fuchs Wasser bringen könnte. Etwas gut machen, an einem losen Ende beginnen. Könnte ich hinausgelangen? Einfach so? Was würde mir draußen geschehen? Würden die Hunde mich anfallen?

 

*

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich trage den Badeanzug. Ich habe ihn
an der Rezeption gekauft.
Was kann sie mir schon sagen?
Niemand würde mich nun noch fortschicken können.
Ich sitze auf der Bank, sehe Joan zu.
Ich habe nicht vor hineinzusteigen. Jetzt, wo alle da sind,
schwimmen, traue ich mich nicht. Da, wo ich herkomme,
lernt keines der Kinder schwimmen.

Hallo, Joan.
Bringst du mir Schwimmen bei?

— Du kannst nicht schwimmen?

Nein, wieso?

 — Jeder kann schwimmen.

Ich kann es nicht.

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
04.00 Uhr am Nachmittag.
Was ist das für ein Mann in der Küche?
Hanan, was macht er hier?
Er sieht so –
So –

— Anders aus als wir?
Braucht Abwechslung
, sagt er.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
In der Küche spricht niemand. Der Dampf aus den großen Pfannen legt
sich auf mein Gesicht. Ich wische mit dem Handrücken darüber. Wir
alle wissen Bescheid. Nicht wenige hier haben Familien dort drüben.
Ich spüre die Schuld im ganzen Körper brennen. Ich konzentriere mich auf das Kneten des Hackfleischs, auf das Schneiden des Gemüses. Die grünen Bohnen werden ganz serviert, Pilze und Zucchini müssen klein geschnitten werden. Werfe einen Blick aus dem Fenster zum Hinterhof. Um diese Zeit ist der Fuchs nicht zu sehen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Am Swimmingpool mache ich Halt. Sehe durch die Glastür.
Inmitten der Schwimmer entdecke ich sie.
Sie hält sich an der Treppe fest.
Manchmal frage ich mich –
Manchmal frage ich mich, kann sie nicht schwimmen?

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Später erkläre ich mich verantwortlich für die Fleischabfälle. Was das heißt: Alle zusammenklauben und in die weißen Beutel füllen. Versehentlich landet dort auch ein Stück Fleisch, das für die Pfannen vorgesehen war. Rosig, aber trotzdem von billiger Qualität.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Unter der Anspannung dieses Tages stehe ich nun unbeabsichtigt länger in den Türen. Oft bin ich schlicht zu müde, um umzudrehen. Um fortzugehen. Einmal bekomme ich heute Nachmittag 1,00. Meist bekomme ich nichts.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
In den letzten Tagen konnte ich beobachten, dass der Fuchs die nur aus Fett bestehenden Stücke häufig liegen ließ, während er die mit dem rosigen Ansatz an der Fettschwarte immer fraß.
Wenn ich nun seine Mahlzeiten mitverantworten würde, könnte ich sie in einer Weise aufbereiten, dass die Qualität merklich stieg. Wie lange ich noch werde hierbleiben müssen, weiß ich nicht. Also werde ich meine Verbindung zu dem Tier pflegen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Es ist, als würden die Wände in den Gängen näher rücken.
Ich warte. Warte vor Türen. Niemand ist freiwillig hier.
Als ob das ein Grund ist, nichts zu geben.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Bevor ich die weißen Beutel nach draußen bringe, fülle ich etwas Wasser in eine der Schalen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
ALS OB DAS EIN GRUND IST, NICHTS ZU GEBEN.

 

 

  

ABEND II

Saskia Nitsche 
2021C032

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Es ist Abend. Am Horizont die vom Wüstensand roten Berge. Bald wird dort die glühende Sonne untergehen. Aber noch ist es hell.
Der Geruch aus der Hotelküche ist inzwischen erträglich. Nach der Schicht ist meine Kleidung durchdrungen vom Geruch nach billigem Speisefett, Zwiebeln, Speck und angebratenem Fleisch. Der Geruch stört mich nicht länger.
Da ist er, steht an den Containern. Er ist früher als sonst.
Die Plastiktüte habe ich nur sacht zugebunden. Er kann sie ganz leicht mit der Schnauze öffnen, vertieft sich hinein.
Der Geruch von Fleisch steigt mir in die Nase. Wieder die brüderliche Verbundenheit mit dem Tier. Gleich wird er auch das Wasser entdecken. Aber was –

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ich trockne meine Haare unter dem Haartrockengerät.
Ich bin müde, aber es fühlt sich gut an. Denke an Joan.
Wie er mir vorgemacht hat, wie ich mich bewegen muss.
Die Glieder unter Wasser. Es hat mich getragen für einige Züge.
Alles war ganz leicht.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Unter der noch glühenden Sonne bemerke ich plötzlich den Körper, der mir schon immer zu gedrungen vorkam.
Und dann
sehe ich es.
Wie kann das sein?
Das stumpfe Fell hat jetzt einen seidigen Schimmer. Jemand hat ihn gebürstet, hat ihn zurechtgemacht wie die anderen –
Plötzlich blickt er nach oben. Sieht er mich an durch die Scheibe? Ich ducke mich weg.
Wie kann es sein, dass es mir erst jetzt auffällt?
Es ist kein Fuchs.
Er ist einer von ihnen.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Morgen werde ich Muskelkater haben. Aber das macht nichts.

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
WIE KANN DAS SEIN?
Er ist einer der Hunde. Die Körper der anderen Militärhunde sind gedrungener. Aber dieser ist mager. Jemand hat ihn zurechtgemacht.
Aufgebracht laufe ich den Gang hinunter, nehme die Treppe nach unten, frage die Frau an der Rezeption, ob sie mich vormerken kann. Für den Fall, dass ein Zimmer auf der anderen Seite des Hotels frei wird, möchte ich wechseln. Dass ich noch am gleichen Abend die 203 haben könne, sagt sie.
Wieder oben packe ich sofort meine Sachen. Werfe keinen Blick mehr hinaus. Als würde ich ihn bestrafen wollen, denke ich. Und das ist es. Habe ich nicht nur seinetwegen die Raketen ertragen?
Plötzlich hat er die Unschuld verloren. Das Mitleid, dass er aufgrund seiner Schwäche sicher ausgestoßen worden ist vom Verbund der anderen Hunde, blitzt nur auf für eine kurze Sekunde, kommt nicht an gegen die Schuldzuweisungen, die ich ihm mache.
Ich bringe meine Sachen in das andere Zimmer.
Kurz darauf wird es dunkel.

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich kann es nicht fassen.
Ist das zu fassen?
Raketen hier? Auf dieser Seite?

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Wie kann das sein?

 

*

FRAU AN DER REZEPTION
Ich schrecke hoch.

MANN DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Hat es geklopft?

FRAU AN DER REZEPTION
Ich muss eingeschlafen sein.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Warum schläft sie?

FRAU AN DER REZEPTION
Mein Herz klopft.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich spüre mein Herz.
Nur noch ein bisschen durchhalten.
Dann wird alles gut.

FRAU AN DER REZEPTION
Draußen steht Militär, schiebt ein Papier unter der Eingangstür durch.
Lassen Sie die Tür geschlossen wegen der Hunde.
Die Shuttles kommen bald.
Wir holen die Hunde hier weg.

 

*

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich will ihn –

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie können nicht –

 

MANN, DER DEN HUND SIEHT
Ich werde ihn –

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Aber Sie können nicht –
Er verlässt das Hotel, ich kann nichts tun.
Haben Sie gesehen, sage ich zu ihr. Haben Sie den Mann gesehen, der das Hotel einfach verlassen hat. Er hat es einfach verlassen.

 

FRAU AN DER REZEPTION
WO HAT ER DAS GEWEHR –

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Woher hat er das Gewehr –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ein Gewehr in diesem Gebäude.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Hilfe.

 

FRAU AN DER REZEPTION
HILFE.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Man kann ihn nicht aufhalten.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Wohin er wohl –

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Entschuldigen Sie, ich würde gerne ein Handtuch –
Badetuch, ich würde gerne ein neues Badetuch leihen.
Wissen Sie, ich habe geübt. Die ersten Züge habe ich genommen.
Ich denke, bald werde ich schwimmen. Bald werde ich es können.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Da ist sie.
Sie ist wunderschön.

 

FRAU AN DER REZEPTION
4,00 für das Pfand. Danke.

  

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Heute Nacht werde ich zurückkehren.
Dann werde ich es sicher bald können.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie können nicht schwimmen?

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Noch kann ich es nicht. Aber ich habe geübt.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Das Telefon klingelt.
Die Shuttles sind da.
Wir sagen Bescheid. Wir melden Sie. Die Gäste kommen.
Sie kommen. Sie warten bereits. In spätestens 15 Minuten sind sie da.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Werde ich erst einmal schwimmen können,
werde ich kraulen lernen.
Ich werde Joan fragen. Er wird mir Kraulen
beibringen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Jetzt werden sie abgeholt.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Was ist das?
Ein Vogel?
Sie können nicht

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Von überallher kommen die Gäste.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Einer drückt mir eine Voliere in die Hand.
Sie können nicht –
Nehmen Sie Ihren Vogel!
einen Vogel hier –

— Er heißt Bamboo.

Schon ist er weg.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Ein Kanarienvogel?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Bamboo.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Wirklich?

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie ziehen Koffer hinter sich her. Von überallher kommen sie. Das Rollen über die Hotelflure ist ohrenbetäubend.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Schaut, Sie halten die Hunde zurück.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Gleich werden die Ersten weg sein.
Bald wird es hier wieder ganz still sein, auch am Tag. Niemand wird kommen. Noch wird niemand kommen können. Dann werde ich nichts mehr an die Familie senden können. Dann werde ich –

 

FRAU AN DER REZEPTION
– ruhen können.
Endlich werde ich Ruhe finden.
Ich werde hervortreten
hinter dem Glas.
Stimmt’s, Bamboo, wir werden frei sein.
So frei werden wir sein.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Joan!
Joan?
Joan, er geht.
Er kann doch nicht –
Jetzt –
Er kann doch nicht jetzt
gehen
abreisen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie werden weg sein. Und dann –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Werde ich schlafen.
Ich werde endlich schlafen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
In den Nächten werde ich mein Jackett
ausziehen können. Nur tagsüber werde
ich es tragen. Sobald mich niemand sieht,
werde ich es ablegen. Ich werde schlafen.
In dem kleinen Raum neben der Küche
auf der Pritsche werde ich schlafen.
Niemand wird Chickenwings bestellen in
den Nächten. Wenn die Menschen Angst
haben, beginnen sie zu essen. Dann wird
es ruhig sein. Ich werde –

 

FRAU AN DER REZEPTION
Ruhe finden.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Aber es wird schwierig werden. Ich werde
Listen schreiben in den Nächten,
wenn ich einmal nicht schlafen kann, wie
ich es immer tue.

311 0,00
210 0,00
107 0,00
001 0,00
300 0,00
105 0,00
003 0,00

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Du wolltest mir
Kraulen beibringen.
Erinnerst du dich?
Joan!

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
So schnell werden keine Gäste mehr kommen.
Aber da ist sie.
Jetzt denke ich nicht an die Listen.
Entschuldigen Sie, dürfte ich –
Dürfte ich Ihnen zusehen beim
Schwimmen. Ich werde einfach hier
stehen. Ganz ruhig. Hinter der
Glasfront. Und Ihnen zusehen. 

 

FRAU AN DER REZEPTION
Bald sind alle weg. 

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie ist schön. So schön.

 

 

   

NACHT II

Saskia Nitsche 
2021C033

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich sitze auf der Bank in der Schwimmhalle, baumle mit den Beinen. Meine Füße stecken in Badeschuhen. Um mich ein flauschiger Bademantel. Es ist ungewohnt. So etwas besitze ich nicht. Ich habe mir alles an der Rezeption geliehen.

FRAU AN DER REZEPTION
Na gut. Ausnahmsweise.
Es ist Nacht, aber lassen Sie sich bloß nicht erwischen.
Wenn der Nachtwächter fragt: Ich habe Sie nicht gesehen.

FRAU IM SWIMMINGPOOL
Ich schwimme, sehen Sie! Es geht schon ganz von alleine.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sagen Sie, wo ist Ihr Zimmer? Ich habe Sie nie in einem Zimmer gesehen.
Haben Sie keins?
Ich wohne in den Gängen, in den Nächten gehören sie mir alleine.
Dort fühle ich mich geborgen. Dort kann nichts passieren. Und Sie?
Haben Sie kein Zimmer?
Sie könnten mit mir –
Ich meine nur –
Wollen Sie einmal mit mir in der Küche sitzen bei Nacht? Wir könnten … könnten einen Tee trinken oder durch die Gänge spazieren. Nun wird es hier vollkommen still sein. Nur draußen werden wir die Raketen hören, manchmal, aber in den Gängen sind wir geschützt. Sie sind wie warme Bäuche, haben Sie das auch bemerkt, es ist wunderschön hier bei Nacht –

 

 

 

EIN PAAR NÄCHTE SPÄTER

Saskia Nitsche 
2021C034

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Jetzt sind sie alle fort. Wohin sind sie gegangen? Wohin fliegen sie? Und wir bleiben zurück.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Endlich können wir ruhen.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich werde meine Familie anrufen müssen. Es könnte schwierig werden in nächster Zeit. Wer wird mir nun schon Trinkgeld geben?
Ob es ihnen gut geht?
Dass es ihnen gut geht, das ist das Wichtigste. Es soll ihnen gut gehen in nächster Zeit. Sie sollen unversehrt sein, das ist das Wichtigste.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Wir sind unversehrt, das ist das Wichtigste.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Das Hotel liegt still da. Es atmet nur noch leise, alles ist zur Ruhe gekommen. Manchmal denke ich, die Wände bewegen sich. Wenn ich mich durch den Bauch des Hotels bewege, ist es, als würde es atmen, ganz sacht. Mich umschließen mit seiner Wärme.
Es ist ruhig, es ist so ruhig und still und ich –
Fühle mich wohl hier.
Ich zerre nochmals den Kragen aus dem Nacken. Ich werde –
Vielleicht werde ich irgendwann das Schild aus dem Jackett trennen. Vielleicht werde ich es einfach tun. Und dann werde ich sagen, es muss sich abgetrennt haben, es muss verloren gegangen sein.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Nun sind sie weg. Die Eingangstür habe ich wieder abgesperrt. Ich überprüfe sie unentwegt. Ich muss wissen, dass sie verschlossen ist.
Ich –
muss das Hotel bewachen
Ich –
muss Anrufe entgegennehmen.

 

FRAU AM SWIMMINGPOOL
Entschuldigen Sie, es ist so still hier.
Ist denn niemand mehr da?
Wann werde ich abgeholt?
Wann geht mein Flugzeug?
Man hat mich doch nicht vergessen?

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Draußen wehen die weißen Fetzen der Plastiktüten herum. Die Container werden inzwischen überhaupt nicht mehr geleert, sie stellen die Tüten nach draußen, inmitten der Wüste kommen die Hunde, schlitzen sie auf.
Fleischreste. Ich esse in der Nacht, zwischen vier und fünf esse ich die
Reste von den Mahlzeiten, die Hanan und Amber für das Personal
zubereiten. Draußen essen die Hunde.
Ich könnte mit den anderen essen, aber ich habe mich an diese Zeit, an
diese Mahlzeit hier unten bei Nacht gewöhnt.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Werfe einen Blick aus den vergitterten Fenstern der Personaltoilette.
Es sind so viele Hunde mittlerweile.

— Wir werden sie töten müssen.

Hunde zu unserem Schutz. Aber was, wenn nicht?

— Die Hunde gehören dem Militär. Wenn wir sie töten, was dann?

 

 

 

NOCH EIN PAAR NÄCHTE SPÄTER

Saskia Nitsche 
2021C035

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Jetzt bin ich einsam, wenn ich in der Nacht durch die Gänge laufe. Keine Türen, die sich mehr öffnen. Niemand, der Bestellungen aufgibt. Kein Piepen mehr. Das Gerät an meinem Gürtel ist ruhig.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Nun schrillt das Telefon nicht mehr.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Selbst die Frau vom Swimmingpool ist jetzt abgereist.
In der Eingangshalle mache ich Halt.
Hatten Sie Angst?

FRAU AN DER REZEPTION
Ein bisschen, denke ich, ein bisschen hatte ich Angst.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Und jetzt? Wie ist es jetzt?
Es scheint nicht vorbei zu sein da draußen.

FRAU AN DER REZEPTION
Nein. Ich kann keine Angst mehr spüren.
Ich denke, ich habe mich hingegeben.
Wissen Sie, dann löst sie sich auf.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie zupft ihre bunte Bluse zurecht.
Ich kenne ihren Namen nicht. Wie sie wohl heißt?

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Hanan, hast du bemerkt, dass der dürre Hund verschwunden ist, dass er einfach fort ist. Kam er nicht jeden Tag?

— Da kann man nichts machen. Vielleicht gestorben. Er war dünn.
Er war sicher krank.

Jetzt sind andere Hunde dort draußen an den Containern, kräftige Hunde. Sicher haben sie ihn vertrieben.
Oder schlimmer, totgebissen.

 

*

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Hier, sage ich, und stelle eine Tasse Tee neben die Frau.
Er riecht nach Zimt.
Ich habe sie noch nie nach ihrem Namen gefragt.
Wie ist Ihr Name?
Jetzt, wo wir diese Nacht hinter uns haben, möchte ich, dass wir unsere Namen kennen. Es bedeutet mir was.

FRAU AN DER REZEPTION
Ach, wissen Sie. Ich weiß es nicht. Ich telefoniere, ich beantworte Fragen, ich bewache diese Eingangstür. Es ist merkwürdig. Ich weiß nicht, wer ich bin. Aber ich funktioniere noch. Das ist das Wichtigste, nicht? Dass ich noch funktioniere. Auch wenn es jetzt ja gar nicht mehr notwendig ist, nicht? Es ist ja nun gar niemand mehr hier.

 

*

FRAU AN DER REZEPTION
Wir sitzen am Swimmingpool.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie in ihrer bunten Bluse.

 

FRAU AN DER REZEPTION
Es ist schön.

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Sie blickt auf das ruhig daliegende Wasser. Draußen auf dem Gang schleicht Nino vorbei. Was macht er hier? Es ist nicht sein Flügel. Will er die Raketen dort drüben nicht sehen?

 

FRAU AN DER REZEPTION
Wie lange wir wohl noch hier sein werden?

 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Was denken Sie, wie lange werden wir noch hier sein?

FRAU AN DER REZEPTION
Ich denke, ich könnte noch eine ganze Weile bleiben. Hier mit Ihnen.
Es gefällt mir.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Ich werde verlegen.
Wollen Sie? Chickenwings.
Ich öffne die Pappbox, die ich bisher vor ihr verborgen habe.

FRAU AN DER REZEPTION
Oh, wie das duftet!

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Probieren Sie! Sie sind ganz wunderbar.

FRAU AN DER REZEPTION
Wie fantastisch. Und so knusprig.

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Nicht wahr?

FRAU AN DER REZEPTION
Sie sind so gut. 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Das freut mich, wirklich. 

FRAU AN DER REZEPTION
Ich denke, ich könnte noch eine ganze Weile bleiben mit Ihnen. 

MANN, DER DIE CHICKENWINGS BRINGT
Tatsächlich? 

 

FRAU AN DER REZEPTION
Oh ja. Ist es nicht schön hier bei Nacht?