Anrufbeantworter #1
Delphine de Stoutz
Aus dem Französischen von Désirée Schneider
2020A010
Hallo?
Ach, der Anrufbeantworter … Na gut, dann Guten Tag … Ich bin es wieder … Ich habe gestern angerufen und vorgestern und vorvorgestern und vorvorvorgestern oder vielleicht auch nicht, das weiß ich nicht mehr. Ich wollte wissen, ob Sie ihn zufälligerweise gefunden haben? Sie haben mir gesagt, ich solle anrufen, deshalb rufe ich an. Meine Freundin hat gesagt, falls Sie ihn finden, würden Sie sicher anrufen, aber Sie sind bestimmt sehr beschäftigt und ich will nicht stören. Mir macht das nichts aus, Sie anzurufen, und ich rufe gerne an, wenn Sie so nicht vergessen mich anzurufen und kein schlechtes Gewissen bekommen, weil Sie mich nicht angerufen haben. Haben Sie mit der jungen Frau gesprochen, die das Zimmer geputzt hat? Ich habe Ihrer Kollegin gesagt – oder Ihnen vielleicht, ich weiß ja nicht, wer den Anrufbeantworter abhört, also, wenn Sie es waren, entschuldigen Sie bitte die Wiederholung – jedenfalls habe ich gesagt, dass ich ihn auf dem Bett liegen gelassen habe, da bin ich mir sicher. Er ist recht klein, nicht sehr groß, er fällt kaum auf. Wenn er noch auf dem Bett gelegen hat, als die junge Frau das Zimmer gemacht hat, kann sie ihn nicht übersehen haben, so ganz alleine mitten im Raum. Wenn sie ihn mitgenommen hat, erstatte ich keine Anzeige, ich habe es Ihnen ja schon gesagt, er ist nicht mehr ganz ansehnlich, seine besten Tage sind vorbei und, nun ja, wenn sie ihn mitgenommen hat, na, dann überlasse ich ihn ihr. Glücklicherweise habe ich ein paar schöne Erinnerungen, die behalte ich, und um den Rest muss sie sich eben kümmern. Ich habe alles gegeben. Das hat mir auch meine Freundin gesagt, ich hätte ihn schließlich nicht ohne Grund auf dem Bett gelassen, es sei ja nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich ihn irgendwo vergesse. Ich hätte das Richtige getan und es hätte nicht so weitergehen können. Sagen Sie dem Zimmermädchen, dass ich nicht zur Polizei gegangen bin. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich das tun würde, aber ich habe es dann doch nicht getan. Das ist die Wahrheit. Und jetzt, da man keine Spuren mehr sieht, ist es zu spät. Sie muss mir das einfach glauben und jemand muss es ihr sagen. Soll sie ihn doch behalten, ich will ihn nicht mehr. Sagen Sie ihr das? Ach, übrigens, ich habe eine Tasche mit frischer Wäsche gepackt. Er trägt jetzt schon seit fünf Tagen die gleiche Unterhose, das ist unhygienisch. Könnten Sie jemanden vorbeischicken, der die Tasche abholt? Ich will sie nicht bei Ihnen vorbeibringen, das geht mich nichts mehr an, also, ich bitte Sie, behalten Sie ihn. Ich will nur wissen, ob Sie ihn gefunden haben. Die 44 habe ich ausgesucht, schalldicht, so wie es in Ihrer Broschüre steht. Man könnte denken, ich hätte das geplant, aber das stimmt nicht. Ich wusste nicht, dass ich ihn auf dem Bett liegen lassen würde, das müssen Sie mir glauben. Ich habe dieses Zimmer ausgesucht, weil ich wusste, dass es Prügel geben würde, und ich die anderen Gäste in ihren Zimmern nicht stören wollte. Ich wusste, wir würden im Restaurant essen und ich würde mal wieder das Falsche sagen, mein Kleid oder meine Haare würden nicht richtig sitzen und danach würde es oben Prügel geben. Das war unvermeidbar, deshalb habe ich dieses Zimmer reserviert, das müssen Sie mir glauben, ich wusste nicht, dass ich ihn auf dem Bett liegen lassen und dass überall so viel Blut sein würde. Es tut mir wirklich leid für die junge Dame, die alles wegwischen musste. Sagen Sie ihr, dass es mir leidtut? Aber wenn Sie mir jetzt sagen, dass Sie ihn nicht gefunden haben … Das verstehe ich nicht, er ist vielleicht klein, aber kein Fliegengewicht! Ein toter Mann auf einem Bett, den kann man doch nicht übersehen. Na gut, also, ich lege jetzt auf. Sie haben ja meine Nummer.
Anrufbeantworter #1
Delphine de Stoutz
Aus dem Französischen von Sara Fischer
2020A010
Hallo?
Ah … der Anrufbeantworter. Na gut, hallo. Ich bin’s noch mal … Ich habe gestern angerufen und vorgestern und vorvorgestern und davor oder vielleicht auch nicht, ich weiß nicht mehr. Ich wollte fragen, ob Sie ihn zufällig gefunden haben? Sie haben gesagt, ich solle anrufen, darum rufe ich an. Meine Freundin meinte, wenn Sie ihn finden, rufen Sie mich an, aber Sie sind wohl ziemlich beschäftigt und ich will Sie nicht stören. Mir macht es nichts aus Sie anzurufen, und wenn ich Ihnen ersparen kann, dass Sie vergessen mich zurückzurufen oder sich schlecht fühlen, weil Sie vergessen haben mich zurückzurufen, rufe ich Sie an. Haben Sie mit dem Mädchen gesprochen, das die Zimmer sauber macht? Ich habe Ihrer Kollegin gesagt – oder Ihnen, ich weiß ja nicht, wer bei Ihnen die Nachrichten abhört … also, falls Sie das waren, dann entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich wiederhole: Ich habe gesagt, dass ich ihn auf dem Bett liegen gelassen habe, da bin ich mir sicher. Er ist eher klein, nicht sehr groß, er fällt kaum auf. Wenn er noch auf dem Bett gelegen hat, als das Mädchen geputzt hat, kann sie ihn gar nicht übersehen haben, so ganz allein mitten im Zimmer. Wenn sie ihn mitgenommen hat, werde ich auch keine Beschwerde einreichen, denn wie ich Ihnen bereits gesagt habe, ist er nicht mehr besonders ansehnlich, seine besten Jahre hat er hinter sich und … nun ja, wenn sie ihn genommen hat, kann sie ihn ruhig behalten. Ich habe zum Glück ein paar schöne Erinnerungen, die bewahre ich mir, ansonsten ist das jetzt ihre Sache. Ich habe mein Bestes gegeben. Das sagt meine Freundin auch, dass ich ihn nicht ohne Grund auf dem Bett zurückgelassen habe, dass es eines Tages so weit kommen musste, dass ich ihn irgendwo liegen lasse. Dass ich richtig gehandelt habe und es so nicht weitergehen konnte. Sagen Sie dem Mädchen, das die Zimmer macht, dass ich nicht zur Polizei gegangen bin. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich es tun würde – habe ich aber nicht. Das ist die Wahrheit. Und jetzt, wo keine Spuren mehr zu sehen sind, ist es dafür zu spät. Sie muss mir glauben. Sie müssen es ihr sagen. Dass sie ihn behalten soll, ich will ihn nicht mehr. Würden Sie ihr das sagen? Ach, und … ich habe noch eine Tasche mit Unterwäsche gepackt. Fünf Tage am Stück trägt er ein und dieselbe Unterhose, das ist doch unhygienisch. Könnten Sie jemanden vorbeischicken, der die Tasche abholt? Ich möchte nicht zu Ihnen kommen, das geht mich alles nichts mehr an, ich bitte Sie, wirklich, behalten Sie ihn. Ich möchte einfach nur wissen, ob Sie ihn gefunden haben. Die 44 habe ich ausgesucht, das schallisolierte Zimmer, wie es in Ihrer Broschüre heißt. Man könnte denken, das wäre vorsätzlich passiert, aber das stimmt nicht. Ich wusste nicht, dass ich ihn auf dem Bett zurücklassen würde, das müssen Sie mir glauben. Ich habe das Zimmer genommen, weil mir klar war, dass es Schläge geben würde, und ich wollte nicht, dass die anderen Gäste auf ihren Zimmern gestört werden. Mir war klar, dass wir im Restaurant essen würden und ich wieder etwas Unangebrachtes sagen würde, dass meine Haare oder mein Kleid nicht angemessen sein würden, dass wir wieder aufs Zimmer gehen würden und es Schläge geben würde. Es war einfach unvermeidlich, deshalb habe ich dieses Zimmer reserviert, glauben Sie mir, ich wusste doch nicht, dass ich ihn auf dem Bett zurücklassen würde mit dem ganzen Blut überall. Mir tut es ja leid für das Mädchen, das es wegmachen musste. Würden Sie ihr bitte ausrichten, dass es mir leid tut? Aber wenn Sie jetzt sagen, dass Sie ihn gar nicht gefunden haben … Das verstehe ich überhaupt nicht. Er ist zwar klein, aber trotzdem ganz schön schwer! Ein toter Mann auf dem Bett, den sieht man doch. Gut, also, ich lege jetzt auf. Sie haben ja meine Nummer.